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                                © Detlev Kranz

                                                                                                                                                                      Barry Stevens 1983
                                                                                  Detlev Kranz

                                BARRY STEVENS  -  VERSUCH ÜBER EIN UNREGEL-MÄSSIGES  LEBEN

(erheblich überarbeitete und umfassend erweiterte Online-Fassung des Artikels in: "Gestalttherapie", 2/1998, S. 3 – 14, Köln, Edition Humanistische Psychologie.  Eine aktuelle Zusammenfassung und Bearbeitung der wichtigsten Informationen erschien inzwischen unter dem Titel "Barry Stevens - Leben Gestalten" in der Zeitschrift "Gestaltkritik", 2/2011, S. 4 - 11.)
 
                                                                                                                                                                                                                            

Barry Stevens (1902 - 1985) kam mit Gestalttherapie in Kontakt, als sie bereits mehr als sechzig Jahre alt war. 1967 traf sie zum ersten Mal Fritz Perls. 1969 verbrachte sie mehrere Monate mit ihm  in seiner Gestaltgemeinschaft am Lake Cowichan, Kanada, in der Nähe von Vancouver, erhielt dort ein Gestalttherapie-Training und leitete auch Gruppen. Fritz Perls nannte sie "a natural-born therapist".
In den 70ger Jahren wurde sie gegen ihren Willen zu einem "Star" der Human Potential Bewegung. Schon lange vor ihrem ersten Kontakt mit Gestalttherapie und auch lange danach war dies eins ihrer Lebensthemen: Leben mit Bewußtheit im Gegensatz zu Leben nach Regeln.
Ausdruck dieser Haltung ist ihre besondere Form von gestalttherapeutischer Körperarbeit, die, genau genommen, Konzentration auf die Bewußtheit von Körperprozessen genannt werden müßte.

Barry Stevens (1902 - 1985) came into contact with Gestalt therapy, when she was already more than sixty years old. In 1967 she met Fritz Perls for the first time. In 1969 she spent several months with him in his Gestalt community at Lake Cowichan, Canada, near Vancouver. There she took part in a Gestalt therapy training, and she also led groups. Fritz Perls called her "a natural-born therapist".
During the 70's she became a "star" of the Human Potential Movement against her will. Long before her first contact with Gestalt therapy und also long after, this was one of her life themes: living with awareness - in contrast to living by rules.
This attitude is expressed in her special form of Gestalt therapy body work, which - strictly speaking - should be called concentration on the awareness of body processes.


BIOGRAPHISCHE NOTIZEN
Es ist nicht einfach, Barry Stevens zu beschreiben (bei welchem Menschen ist es das überhaupt?). Auf welchem Weg kann ein einigermaßen befriedigendes Ergebnis entstehen?. Das Problem beginnt mit der Anmaßung, ich könnte als Schreiber des Artikels diesen Menschen, Barry Stevens, mit seinem bewegten, unkonventionellen und ereignisreichen Leben in einer Weise erfassen, die ihn anderen Menschen näher bringt.
Diese Frage, ob irgend jemand überhaupt einen anderen Menschen angemessen darstellen kann, ist eine sehr Barry-Stevens-nahe Überlegung. Sie würde sich wehren, in Kategorien eingezwängt zu werden.

Gestalttherapie machte ihr Leben nicht aus. Sie gab der Gestalttherapie eher Impulse als andauernde Einwirkungen. Aber ich kenne niemanden in der Gestalttherapie, der einsichtsvoller und schöner über Bewußtheit geschrieben hat; über eine Bewußtheit, die beständig eingewoben ist in das alltägliche Leben. Und die dadurch das alltägliche Leben heilsam sein läßt, weit ab von regelmäßigen Therapiesitzungen.
Sie selbst hätte wahrscheinlich Einwände gegen die Bezeichnung "Lehrer" (der sie für mich in vieler Hinsicht war). Inwieweit sie sich als Gestalttherapeutin sieht oder nicht, thematisiert sie in ihren Büchern.
Sie war gegen die Begrenzungen, Einschränkungen und Abschneidungen, zu denen Bezeichnungen und Kategorisierungen notwendigerweise führen.

Gestalttherapie spielt in ihrem Leben eher die Rolle einer Durchgangsstation, - wenn auch die einer längeren. Ihre Grundvorstellungen über Bewußtheit, Regeln und Erfahrungen hatte sie sich bereits vorher, zum Teil mit Mühsal und unter Schmerzen, weitgehend selbst erarbeitet. Freunde wie Bertrand Russell und Aldous Huxley, oder andere, weniger prominente Menschen in der Bevölkerung Hawaiis, in der Navajo-Reservation oder unter den Hopi-Indianern waren dabei eine Hilfe.
Schließlich trafen sich ihre eigenen Erfahrungen und Gedanken in fruchtbarer Weise mit denen der Gestalttherapie.

Wenn mich jemand fragen würde, was den Kern von Gestalttherapie ausmacht, würde ich sagen "Bewußtheit", und damit verbunden das Schulen der eigenen Erfahrung und Wahrnehmung, um zu lernen, diesen zu vertrauen, - etwas, das die meisten Menschen eher abtrainiert bekommen haben im Laufe ihres Lebens.
Genau dies ist Barry Stevens zentrales Thema; es ist eine Art Lebensthema. Es war dies schon, bevor sie mit Gestalttherapie in Berührung kam.

In mühsamen Kämpfen hatte sie sich aus alten Konditionierungen gelöst, die verwirrenden Einflüsterungen anderer Menschen abgeschüttelt, um wieder zu sich selbst zu gelangen. Dieser Prozeß war aus ihrem Verständnis heraus lebenslang. Zu sich selbst zu gelangen schloß ein, den persönlichen Wandel zu begreifen, und sich dabei zu folgen, alte Vorstellungen über sich selbst loslassen zu können und sich in die jeweils "neue", erweiterte Barry Stevens hinein zu entfalten.

Genau dies ist es, was mich an Barry Stevens so berührte und auch heute noch ergreift; ihr Mut eingeschlossen, sich auch unter Schmerz und im Annehmen der entstehenden Ungewißheit und Unsicherheit aus den alten Konditionierungen zu schälen und die eigene Wahrnehmung und Bewußtheit freizulegen und sich selbst zu vertrauen zu lernen.
Schließlich, wenn sie über ihre Lebensweise schreibt, geschieht es mit berührender Aufrichtigkeit, Würde und Selbstachtung.

Einschub
Bewußtheit und das Suchen nach den eigenen, verläßlichen Erfahrungen als den Kern der Gestalttherapie zu erkennen und auch als Leitlinie für mein eigenes Leben anzunehmen, verdanke ich in großem Maße Barry Stevens.
Ihr Buch "Don't push the River" machte beim ersten Lesen so großen Eindruck auf mich, daß ich versuchte, mit Barry Stevens in Kontakt zu kommen. 1982 entstand ein Briefwechsel zwischen uns, und im Sommer 1983 hatte ich Gelegenheit, zwei Wochen zusammen mit Barry Stevens in Kalifornien zu verbringen. Sie lebte dort für eine Weile bei Freunden und erholte sich gerade von den Folgen eines Schlaganfalls. (dazu s. Kranz, D. (2003): "Barry Stevens begegnen"). 

 

STATIONEN
Barry Stevens wird 1902 in New York als Mildred Fox geboren, ändert ihren Vornamen später in Barry, und wird nach ihrer Heirat mit Albert Mason Stevens zu Barry Stevens. 1919 machen sich Barry, ihre Mutter und ihr Vater in einem Model T Ford auf den Weg nach Kalifornien. "Zu jener Zeit fuhren nicht viele Leute quer durch den Kontinent. Wir trauten uns nicht, den Leuten unterwegs zu sagen, wohin wir fuhren. Erst sagten wir Niagara Fälle. Als wir dort waren, sagten wir Cleveland. Als wir in Cleveland waren, hatten wir den Mut zu sagen, wir führen nach Kansas City. Dort angekommen waren wir noch mutiger (oder verwegener) und erzählten den Leuten, wir seien auf dem Weg nach Kalifornien." (Stevens 1970, 145; alle Zitate aus Titeln, die im Literaturverzeichnis in Englisch aufgeführt sind, erscheinen im Text in der Übersetzung des Verfassers; D.K.).

In den zwanziger Jahren gehören zu Barry Stevens Lebensstationen u.a. Arizona, wo sie 1922 als Gesellschaftsredakteurin für den Arizona Daily Star arbeitet. Ein Jahr später kehrt sie zurück nach New York und findet eine Arbeit als Schreibkraft. Ihre Tochter Judith wird geboren, und ist sofort schwer krank.  Zwei Kinderärzte geben sie auf, ein weiterer, Albert Stevens, nicht, und Judith wird gesund und lebt. Barry Stevens heiratet neun Jahre später diesen Kinderarzt ihrer Tochter: "Ich hatte eine Tochter, die lebte, und neun Jahre später heiratete ich ihren Kinderarzt, und wir hatten einen Sohn." (Stevens 1985, 10).

Bei diesem Sohn handelt es sich um John O. "Steve" Stevens, den viele Gestalttherapeutinnen und -therapeuten u.a. als Autor des Buches "Die Kunst der Wahrnehmung" kennen (Stevens J.O. 1971). Später ändert John Stevens seinen Namen in Steve Andreas.

Bertrand Russell
1927, im Alter von 25 Jahren und noch unter dem Namen Barry Fox, lernt sie Bertrand Russell kennen, der sich zu der Zeit auf einer Vorlesungsreise durch die USA befindet. Bertrand Russel ist zu diesem Zeitpunkt bereits 55 Jahre alt. Barry Stevens interessiert sich u.a. für das experimentelle Schulprojekt Beacon Hill, das Russell und seine Frau Dora gerade in England gegründet hatten. Während dieser Vorlesungsreise entsteht zwischen Bertrand Russell und Barry Stevens eine intensivere Beziehung (Griffin 2001,  270).

Sie empfindet sich ihm gegenüber "ebenbürtig"; so wie sie sich auch gegenüber einer alten Lehrerin gefühlt hatte, die sie "sehr geliebt und verehrt" hatte. "Ich mußte viel von ihr lernen, und dennoch war ich ihr ebenbürtig. Bertrand Russell gegenüber hatte ich auch solche Gefühle, als ich um die zwanzig Jahre alt war. Ihm gefiel das. Für mich ist das Demokratie." (Rogers/Stevens 1967, 302).

Interessanterweise befindet sich unter den Unterlagen von Dora Russell ein Schreibmaschinenmanuskript von Barry Fox (Stevens) mit dem Titel "Denatured marriage" (Dora Winifred Russell Papers, Nr. 231). Die Zeit, in der Barry Stevens Russell kennenlernt, ist gleichzeitig der Beginn der Phase der Auflösung seiner Ehe mit Dora.

Viele Jahre später, 1969, in Fritz Perls' Gestaltgemeinschaft am Lake Cowichan auf Vancouver Island, erinnert sich Barry Stevens an Bertrand Russell. Alles beginnt mit einem Traum, in dem sie einen Brief von Russell erhält, in dem er schreibt, daß er sie unbedingt treffen wolle. Barry Stevens: "Ich war verletzt, weil er sich nicht erinnerte, daß wir uns drei Jahre lang sehr nahe gestanden haben." Weitere Erinnerungen folgen: "Bertie gefiel 'Amerika' nicht besonders. Einmal meinte er, daß es ihm diesmal besser gefallen hätte als früher. (...) Er liebte die Küste von Connemara in Irland, wo er etwas erlebt hat, für das wir so viele verschiedene Namen haben, und die doch alle so dumm klingen ... jedenfalls kam er an dieser rauhen und stürmischen Küste ... so intensiv mit dem Universum in Kontakt ..." (Stevens 1970, 25 ff; deutsche Ausgabe 2000, 32 ff).

"Wenn wir bei unseren Wanderungen durch die Moorlandschaft von Cornwall an ein Tor kamen, öffnete Bertie das Tor, und während er das tat, hüpfte ich die kleinen Stufen in der Mauer hoch und darüber hinweg. ... Damals war er schon ein alter Mann, fünfundfünfzig Jahre alt. Jetzt ist er über neunzig, und ich weiß nichts mehr über seine Gefühle. Damals kam es mir ungeheuer wichtig vor, herauszufinden, welchen der beiden Männer, die ich liebte, ich heiraten sollte. Dreißig Jahre später kam es mir vor, als hätte es keine Rolle gespielt." (Stevens 1970, 30; deutsche Ausgabe 2000, 36).

Barry Stevens Tochter Judith, die sich später Alisande nennt, wird tatsächlich für einige Zeit Schülerin in Bertrand und Dora Russells Beacon Hill School. Sie berichtet später, daß Bertrand Russell sich liebevoll um die Schüler gekümmert hat, wenn er anwesend war (Gorham 2005, S. 57).

Bertrand Russell schrieb in der Zeit von 1927 bis 1932 34 Briefe an Barry Stevens. Die Briefe befinden sich inzwischen im Bertrand Russell-Archiv der McMasters University, Hamilton, Ontario, Kanada (Spadoni 1981). In einem dieser Briefe gibt es eine nicht unbedeutende Einzelinformation für die Forschung über die Beziehung zwischen Russell und dem Dichter T. S. Eliot. Russell fragt Barry Fox/Stevens u.a., ob sie "Eliot's kleines Gedicht" über ihn mit dem Titel "Mr. Apollinax" kennen würde. (Brief v. 27. Nov. 1927; Leithauser/Dyer 1982, 18).

Hawaii
1934 veröffentlicht Barry Stevens, als Barry Fox, einen Roman: "Hide-away Island" (New York, Greenberg).
Im gleichen Jahr zieht die inzwischen verheiratete Barry Stevens mit ihrer Familie von New York nach Hawaii und bleibt dort bis 1945 (Stevens 1985, 120ff). Barry Stevens erlebt dort den Angriff japanischer Truppen auf Pearl Harbour, 1941, aus naher Entfernung: "An jenem Sonntagmorgen, als mein Körper durch die Vibrationen der Bomben erbebte, als brennende Flugzeuge in der Bucht trieben und der Hangar brannte ... gab es zwei Hälften in meinem Verstand, die offensichtlich im Gegensatz zueinander funktionierten, ... Eine Hälfte leugnete, entgegen aller Beweisführung, ... die andere akzeptierte, was sie als wahr erkannte und suchte nach dem, was ich für das Überleben tun könnte ..." (Stevens 1985, 22).

Pearl Harbour hat neben dem äußeren Schrecken, der Zerstörung und dem Leid für Barry Stevens einen inneren Effekt, der sie herausreißt aus ihrem gewohnten Leben der letzten Jahre. Das Zusammenleben mit ihrem Ehemann war zunehmend schwieriger geworden; und so verläßt sie ihn schließlich mit ihrem Sohn Steve: "Es war klar für mich, daß wir nicht mehr zurückgehen durften, um mit seinem Vater zu leben." (Stevens 1985, 134). Als sich Barrys Ehemann 1945 das Leben nimmt, sind Barry Stevens und der neun Jahre alte Steve in Arizona (Stevens 1985, 104).

Später schreibt sie über ihre Zeit auf Hawaii: "Im Alter von vierzig Jahren war ich erschreckt und verwirrt, weil ich offenbar nicht mehr in der Lage war zu wissen, was ich wollte. Nach meinen Begriffen, war ich verrückt geworden. Während ich nach einem Ausweg suchte, beschritt ich zwei Wege gleichzeitig: Ich forschte in meinem Inneren nach Fehlentwicklungen und ich suchte außerhalb meiner selbst etwas, dem ich Glauben schenken könnte ... Die Suche nach Innen lohnte sich..." (Rogers/Stevens 1967, 19).

Hier nimmt nun etwas Form an, das Barry Stevens Lebensweg bis zum Ende begleiten sollte: die eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen bewußt zu erleben und ihnen zu vertrauen zu lernen. "Aber als ich dann tatsächlich mit meinen inneren Wertsetzungen wieder in Kontakt kam, war es furchtbar schwer, ihnen zu vertrauen, weil sie in wesentlichen Dingen gegen das sprachen, was alle anderen sagten. Doch je mehr ich sie benutze, umso mehr vertraue ich ihnen; ..." (Rogers/Stevens 1967, 19). Das, was sie entwickelt und schult, nennt sie ihren "inneren Fährtensucher" und dessen Arbeitsweise lautet, sich "in das größtenteils Unbekannte hineinzubewegen und auf dem Weg weitere Informationen - Wegweiser und Anhaltspunkte - aufzugreifen" (Rogers/Stevens 1967, 206), was zu einem Teil ihrer Haltung dem Leben gegenüber wird.

Während ihrer Zeit auf Hawaii geschieht noch etwas Bemerkenswertes: Sie lernt Yoshimatsu Nakata kennen, der von 1907 bis 1915 als Diener bei dem Schriftsteller Jack London und seiner Frau Charmian gearbeitet hatte, und hilft ihm bei der Zusammenstellung und Erarbeitung und dem Aufschreiben seiner Memoiren aus dieser Zeit. (Nakata and Stevens Papers, Sonoma State University), (Stevens 2000)

Susan Daniels, geschiedene erste Ehefrau von John "Steve" Stevens, hatte das Manuskript auf dem Dachboden entdeckt, und es 2002 der "Schulz Library", Sonoma State University, überlassen. Das Manuskript ist für die Jack London-Forschung von besonderer Bedeutung, da es Kommentierungen von Londons Ehefrau Charmian an den Seitenrändern enthält. (Madrigal 2008)

Ende der vierziger Jahre leben Barry Stevens und ihr Sohn in den Reservaten der Hopi- und Navajo-Indianer. Bei ihnen, wie schon bei den Bewohnern Hawaiis, entdeckt Barry Stevens wohltuende Ähnlichkeiten in bezug auf grundlegende Lebenseinstellungen; hier eine kleine Episode:
"Die Köchin, eine Tewa-Indianerin, hatte ihre Hand sehr schwer verbrannt und durfte sie zehn Tage lang nicht benutzen. Ich hoffte, daß meine Kochkünste den Hopi-Männern zusagten, aber ich wußte es nicht. Eines Tages sagte Herbert Talehaftewa ...ruhig zu mir: 'Die Männer sagen, daß Sie ihr Bestes geben.' Ich war verletzt. Mir schien, sie dachten, daß mein Kochen nicht sehr gut sei. Aber dann erkannte ich, daß das, was die Männer gesagt hatten, die einfache Wahrheit war und daß ihre Anerkennung dieser Wahrheit schöner war als Lob. Sie kannten mich innerlich. ... Auch ich lernte sie innerlich kennen, von Mensch zu Mensch; ... Ich bin nun jenen Hopi-Männern, die ich fünfzehn Jahre lang nicht gesehen habe, näher als vielen Leuten, die jetzt um mich sind, mich kategorisieren und in eine Schublade gesteckt haben, Leute, die mich innerlich überhaupt nicht kennen." (Rogers/Stevens 1967, 27)

Trotz so wichtiger Erfahrungen keine Verherrlichung, kein Absolutsetzen: "Nicht alle indianischen Bräuche sind etwas für mich. Nicht alles an der Gestalttherapie ist etwas für mich." (Stevens 1970, 16).
 

Krankheit
In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre wird Barry Stevens schwer krank, und gerät in Folge und zusätzlich in große finanzielle Schwierigkeiten (Rogers/Stevens 1967, 66). Sie hat "chronisches rheumatisches Fieber"; wie ihr Sohn Steve später schreibt, "eine 'nicht-existente' Krankheit zu der Zeit, für die es keine Behandlung gab." (Andreas 1985, 5). Etwa drei Jahre lang ist Barry Stevens fast vollständig bettlägerig (Stevens 1975a, 174).

Eine große Bedeutung für sie erhält in jener Zeit ein aufrichtiger Arzt, der ihr u.a. offen sagte, wie wenig über chronische Krankheiten wirklich bekannt war. Zusammen mit ihm wird ihr langsamer Weg ins Gesundwerden eine Phase von Experimentieren und gemeinsamem Erforschen. "Der Arzt und ich verbrachten eine sehr anstrengende Zeit miteinander. Im Krankenhaus wollte ich zu einem gewissen Zeitpunkt aufgeben. Sterben erschien mir leichter als Leben. Er ließ mich nicht. Er verlor zu einem gewissen Zeitpunkt das Vertrauen zu sich und bot mir an, mich an jeden anderen Arzt meiner Wahl zu überweisen. Ich ließ ihn nicht. Zwischen uns war agape (liebendes Mitgefühl; D.K.) - und gegenseitiges Verstehen." (Rogers/Stevens 1967, 155).

"Es gab für uns beide in jenen Jahren, als wir versuchten, mich gesund zu bekommen, Leiden und Kampf, Selbstzweifel und Frustration, aber als ich fortging, weil ich in eine andere Stadt zog, sagte er: 'Irgendwie hat es Spaß gemacht.' Das fand ich auch." (Rogers/Stevens 1967, 155).

Aber Barry Stevens lernt auch das Gegenteil kennen: falsche Selbstsicherheit, Überheblichkeit und starre Ansichten, die sich auf formale ärztliche Autorität beruft, das Krankenhauspersonal miteingeschlossen. Sie beschreibt Ärzte, die von Patienten Gehorsam erwarten, und die eigene Einschätzung und die eigenen Erfahrungen der Patienten nicht gelten lassen wollen. "Wenn eine medizinische Behandlung mir schadet, kann ich das merken, bevor es für andere offensichtlich wird, aber man verlangt von mir, daß ich damit weitermache, und ich bin 'lästig' und 'unvernünftig', wenn ich protestiere, und 'widerspenstig', wenn ich sie verweigere. Ich werde auf subtile oder nicht-subtile Art für meinen Ungehorsam bestraft. Ich werde in eine Situation gebracht, in der ich kämpfen muß, während mein Körper doch die Ruhe braucht, um seine eigene Ordnung wiederherzustellen." (Rogers/Stevens 1967, 295).

Angeblich werden Dinge für den Patienten getan, aber man tut sie ihm an. "Nicht alle Ärzte tun das" fügt Barry Stevens hinzu (Rogers /Stevens 1967, 296).

Sie entdeckt für sich ein inneres Bild: zwei Gestalten halten sie an einer Leine fest, während sie im Wasser schwimmt, und versucht zu lernen, gegen den Strom zu schwimmen. Sie bewahren sie davor, von der Strömung fortgetrieben zu werden. "Ich wußte, daß diese beiden Gestalten der Doktor und Aldous Huxley waren. Keiner von ihnen verstand alles, aber jeder einzelne verstand genug, um helfen zu können. ... Als ich während meiner Experimente mit meiner Seele in etwas hineingeriet, das weder der Doktor noch ich verstanden, so daß ich mich davor fürchtete, weiterzumachen, schrieb ich an Huxley, und er erklärte es. Diese beiden Männer bewahrten mich davor, weggefegt zu werden, während ich um mich schlug und lernte, wie man gegen den Strom schwimmt." (Rogers/Stevens 1967, 58)

Diese Experimente, von denen sie berichtet, beschreibt sie in "Don't Push the River" näher. In ihrer Vorstellung holte sie sich den Doktor und Huxley in ihr Zimmer. "Ich brauchte nichts zu tun, sondern konnte es einfach ihnen überlassen. Ich ließ los und fing an, mich zu winden, zu jammern, zu zittern und zu springen (Hüften und Schultern). ... Ich wiederholte diese Phantasie mehrere Male an verschiedenen Tagen. ... Ich schrieb an Huxley und er antwortete:
'Es handelt sich dabei um ein Phänomen, das ich schon bei anderen beobachtet und an mir selbst erfahren habe, und es scheint einer der Wege zu sein, auf dem die Entelechie, die körperliche Intelligenz oder das tiefere Selbst sich von den Hindernissen befreit, die das bewußte, oberflächliche Ego ihm in den Weg stellt. Zuweilen kommt es zu einer Erinnerung längst vergrabenen Materials mit entsprechenden Abreaktionen. Aber keineswegs immer. Und wenn eine solche Erinnerung nicht stattfindet, werden viele ihrer heilsamen Folgen dadurch erreicht, daß das tiefere Selbst diese Unruhe im Organismus selbst herbeiführt - eine Unruhe, die offensichtlich viele organische und muskuläre Knoten und Verspannungen löst, die wiederum aus seelischen Verspannungen resultieren ...'"(Stevens 1970, 89ff, deutsche Ausgabe 2000, 88ff)

Aldous Huxley interessiert sich in den fünfziger Jahren für Psychiatrie, Psychotherapie und alternative Heilmethoden. 1954 nahm er teil an einer Konferenz für Parapsychologie, 1955 an einem Treffen der "American Psychiatrists' Association". Und einen Monat später reiste er zu einer Konferenz über "unorthodoxes Heilen". (Golovacheva 2007, 125)

Er schreibt dazu: "Die Diskussion einer hypothetischen Kraft im Heilen durch Handauflegen ... war äußerst interessant. Einige neuere Befunde, die dazu tendieren, von Reichenbachs Hypothesen zu bestätigen (die in unserer Zeit von Dr. Wilhelm Reich wieder belebt werden) wurden erwähnt." (Golovacheva, a.a.O.)

In ihrem Artikel über Huxley nimmt Irina Golovacheva ausdrücklich bezug auf Huxleys Brief an Barry Stevens. "Im September 1955 schrieb er einen Brief an Frau Barry Stevens, in dem er etwas diskutierte, das er physiologische Intelligenz oder Entelechie nannte ..."(Golovacheva, a.a.O.)

So entdeckt Barry Stevens in dieser Zeit der Erkrankung etwas für sich, was sie später "decontrolling"  nennen und zu ihrer Form gestalttherapeutischer Arbeit mit dem Körper entwickeln wird, also noch bevor sie von Gestalttherapie und Fritz Perls gehört hat (Stevens 1975a, 174; s.a. Kranz, D. [1999]: "Barry Stevens - Gestalttherapie, Bewußtheit und Körper" ). Später, durch Fritz Perls, lernt sie, wie sie sagt, dieses "body-decontrolling" auch in Zeiten aufrechtzuerhalten, in denen sie nicht verzweifelt ist (Stevens 1975a, 175). Noch etwas Anderes erlangt große Bedeutung in jenen Krankheitsjahren: das Aufgebenkönnen von Erwartungen, Zielen und Wünschen. "Nachdem ich zwei Jahre hauptsächlich im Bett verbracht hatte, kam ich zu der Erkenntnis, daß ich mich so krank wie möglich sein lassen mußte, nicht versuchen, gesünder zu werden, nicht versuchen, so zu handeln, als ginge es mir besser. 'Gestalt versucht in Einklang zu sein mit dem, was ist.'" (Stevens 1970, 87).

Viel später, 1969, am Lake Cowichan, fallen Barry Stevens in diesem Zusammenhang Worte ein, die Fritz Perls in einer Gruppe gesagt hatte; nicht ganz ...: "Ich fragte ihn nach seinen Worten. Er antwortete: 'Jeder Versuch zu verändern (absichtlich, "will-kürlich"; D.K.) ist zum Scheitern bestimmt.' Ich begann zu tippen und schrieb 'Jeder Versuch zu scheitern...' Fritz vervollständigte '... ist zum Erfolg bestimmt. ... Jeder Versuch zu verändern ist zum Scheitern bestimmt. Eine Gegenkraft wird geschaffen.'" (Stevens 1970, 88). (In Englisch lautet der Satz: Any attempt to change is bound to lead to failure.)
 

Carl Rogers
In der ersten Hälfte der sechziger Jahre entsteht ein Briefwechsel zwischen Barry Stevens und Carl Rogers, der schließlich zu persönlichen Begegnungen führt und zu einem gemeinsamen Buchprojekt, das 1967 unter dem amerikanischen Titel "Person to Person. The Problem of Being Human" (deutsch: "Von Mensch zu Mensch..."; (Rogers/Stevens 1967) erscheint.

Das Buch enthält einerseits Artikel von Carl Rogers, Eugene T. Gendlin, John M. Shlien und Wilson van Dusen, und andererseits - als Schwerpunkt - Barry Stevens ganz persönliche Auseinandersetzung mit deren Inhalt in Bezug zu ihrem Leben, ihren eigenen Erfahrungen und Vorstellungen. "Einen großen Teil dieses Buches schrieb sie als Gast des Western Behavioral Sciences Institute, und sie wurde während dieser Zeit mit ihrer ruhigen, entspannten Art eine wichtige Person in dem Leben vieler Menschen, die dort arbeiten..." (Rogers/Stevens 1967, 7/8).

Steve Stevens, ihr Sohn, geht das Risiko ein, das Buch selbst herauszugeben und einen Verlag dafür zu gründen. Entgegen der Einschätzung vieler Menschen in Barrys und Steves näherer Umgebung wird das Unternehmen ein Erfolg (Stevens 1970, 67). Aus diesem Verlagsprojekt entsteht Real People Press, ein Verlag, der sich später das Ziel setzt, zur Verbreitung der Gestalttherapie-Literatur beizutragen. Steve Stevens war es auch, der den Anlaß zu dem Buch gegeben hatte, als er Barry Stevens einen Text von Carl Rogers mitbrachte (Stevens 1970, 74).

Barry Stevens beginnt das "Vorspiel" zu dem Buch in fast biblischem Ton: "Am Anfang war Ich, und Ich war gut. Dann trat das andere Ich auf den Plan. Die Autoritäten von außen. Dies war verwirrend. Und dann wurde das andere Ich sehr verwirrt, weil es so viele verschiedene äußere Autoritäten gab." (Rogers/Stevens 1967, 15). Im Verlauf des Buches beschreibt sie dann, wie sich ihr Weg, mühsam und befreiend, aus der Verwirrung heraus entfaltet.
 

Fritz Perls
Im selben Jahr, in dem "Person to Person" erscheint, nämlich 1967, kommt es zur ersten Begegnung zwischen Barry Stevens und Fritz Perls. Auf Anregung von Steve Stevens nimmt Barry an einem Workshop mit Fritz Perls in San Francisco teil. Sie ist verblüfft von der Art und Weise wie Perls therapeutisch arbeitet. Zwei Jahre später, im Gestalt Institute of Canada, am Lake Cowichan, ist sie es nicht mehr. Sie hat inzwischen selbst viel von dem gelernt, was Gestalttherapie bedeutet. Aber manchmal vermißt sie diese ursprüngliche Verblüffung (Stevens 1970, 1/2).
 

...und Lake Cowichan
Fritz Perls hatte 1969 die USA verlassen und war an den Lake Cowichan in Kanada gezogen, in der Nähe von Vancouver, um dort eine Gestaltgemeinschaft aufzubauen. Offiziell hieß das Projekt Gestalt Institute of Canada.

Dort beginnt am 1. Juni 1969 die Gestalttherapie-Ausbildungsarbeit mit zwanzig Personen, und eine von diesen Personen ist Barry Stevens (Stevens 1970, 10). Die Erfahrungen, Erlebnisse und Überlegungen aus dieser Zeit bilden die Grundlage für ihr Buch "Don't Push the River", das 1970 bei Steve Stevens Verlag Real People Press erscheint, und ein großer Erfolg wird. Das Buch wurde zunächst bei Celestial Arts in Berkeley, Kalifornien, neu aufgelegt; und seit 2005 erneut durch "The Gestalt Journal Press".

In den ersten drei Monaten erlebt Barry Stevens das Zusammenkommen und Zusammenleben dieser Menschen, die sich zum großen Teil nicht kennen, wie das Zusammenwachsen einer lebendigen Gemeinschaft, die sich organismisch selbst reguliert und in einer experimentellen Grundhaltung ihre jeweilige Form findet. Danach gibt es einen Bruch: Fritz Perls fährt für einen Monat weg; Barry Stevens für drei Wochen. Als sie zurückkommt, also Ende September, ist alles organisiert. "Listen für die Gruppen, wie der militärische Wachwechsel - die nicht-organismische Organisation, die ich so sehr nicht mag, die nicht Gemeinschaft für mich ist." (Stevens 1970, 10).

Eigentlich hatten die Schwierigkeiten aus Barry Stevens Sicht schon im August begonnen, als Fritz Perls anfing, mehr und mehr Personen zusätzlich zu dem ursprünglichen Kern von zwanzig in die Gemeinschaft zu holen. Diese Entwicklung setzte sich im September, Oktober und November fort, obwohl Fritz Perls immer wieder davon sprach, auf die Zahl von zwanzig Personen zurückzugehen. "Ich fragte ihn einmal, wie es käme, daß er einmal so redete, aber dann anders handelte. Er sagte, 'Nun, Jerry ist hier, weil ... und Lally ist hier, weil ...' ... Ich antwortete: 'Ich kenne all die Gründe, aber warum tust du es?' Er sagte einfach als eine Tatsache: 'Weil ich verrückt bin.' Die beiden Hauptfaktoren in seiner Verrücktheit waren sein Weichherzig-sein und sein Ehrgeiz." (Stevens 1975b, 197/98).

Die Beziehung, die sich zwischen Fritz Perls und Barry Stevens entwickelt, läßt sich als liebevoll und sanft charakterisieren. Einmal, während einer Gruppe, stellt Fritz Perls eine Frage an alle und jeder sagt etwas. Barry Stevens sagt nichts; Fritz: "'Barry?' 'Ich bin leer,' sagte ich. Er nickte und ging zu jemand anderem über oder zu etwas anderem. Wie schön, wenn mein Leersein so einfach akzeptiert wird." (Stevens 1985, 90).

Fritz Perls muß sich in diesen Monaten, die auch die letzten seines Lebens sind - er stirbt im März 1970 -, noch verändert haben.  Barry Stevens schreibt über ihn: "Ich weiß, daß er seine Arroganz nicht mag, und gleichzeitig hat er so eine schöne Demut." (Stevens 1970, 26). Und später: "Fritz ist jetzt fast immer ein warmer und sanfter old gentleman. Er verbringt mehr Zeit damit, mit Leuten zu plaudern, als sonst. Er ist viel geduldiger." (Stevens 1970, 186).

Fritz Perls denkt in Cowichan häufig darüber nach, auf welche Weise er Gestalttherapie unterrichten kann, ohne daß es zu Mißverständnissen oder Mißbrauch kommt. Er beobachtet, wie verschiedene Menschen einfach Gestalt-Experimente übernehmen und sie als Tricks gebrauchen oder sie zu Regeln machen, ohne daß sie das Wesentliche der Gestalttherapie verstehen, geschweige denn integrieren (Stevens 1970, 265).

"Ich bin frustriert bei dem Versuch zu übermitteln, daß Gestalt nicht Regeln ist." sagt Fritz Perls während einer Gruppensitzung in Cowichan (Stevens 1970, 4).

Barry Stevens beschäftigen die gleichen Fragen, besonders die des Mißbrauchs der "konzeptuellen Werkzeuge" der Gestalttherapie; doch sie kommt zu dem Ergebnis, daß sie letztendlich keinen Weg kennt, Mißbrauch zu verhindern. Das gilt für alle "Werkzeuge" (Stevens 1970, 7ff).
 

Abschied
Im November mehren sich ihre Überlegungen, vom Lake Cowichan Abschied zu nehmen. Sie beginnt die Wirkungen, die diese Zeit auf sie hatte, rückblickend zusammenzufassen. Als sie sich einmal von Fritz Perls gedrängt fühlte, schreibt sie später in einer "inneren Ansprache" an Perls:
"Fritz, du bemerkst die Schritte nicht, die ich gemacht habe, jene gewagten Schritte, die ich unternommen habe, die nicht gewagt sind, und ich verstehe das, aber sie fühlen sich gewagt an. Ich habe das Gefühl, daß du mich nach mehr drängst. Dränge den Fluß nicht, er fließt von allein. Ich möchte nicht, daß du mir sagst, wie gut ich mich mache. Laß mich einfach in Ruhe. Nimm wahr, daß ich mich jetzt bewege, in einer neuen Weise, furchtsam, aber ich tue es, und ich habe das vorher nicht getan. Laß mich meine furchtsamen Schritte machen, und wahrnehmen, wie gut sie sind und dadurch Vertrauen gewinnen durch meine eigenen Erfahrungen." (Stevens 1970, 250)

Etwas später geht Barry Stevens in ihrem Erkenntnisprozeß noch ein Stück weiter: "Ob Fritz mich gedrängt hat oder nicht ist irrelevant. Ich habe mich gedrängt. Wenn ich mein eigenes Drängen loswerde, drängt mich auch das Drängen anderer nicht - und dann fühle ich mich auch nicht gedrängt. ... Ich bin einfach." (Stevens 1970, 252).

Für Barry Stevens hat sich Cowichan allmählich von einer Gestalt-Gemeinschaft, die sie schätzt, zu einem Ausbildungszentrum entwickelt, das sie nicht schätzt. Sie hält diese beiden Formen für nicht kompatibel (Stevens 1970, 266). Ihre Vorstellung von einer Gestalt-Gemeinschaft ist radikaler; ihr geht es um radikale Veränderungen, die den ganzen Menschen und seine Lebensweisen betreffen. Eine Suchhaltung, eine Haltung des Ausprobierens, mit Bewußtheit, ein Weg der Befreiung machen ihre Perspektive aus. Damit setzt sie sich von Fritz Perls ab: "Sein (Ort; D.K.) ist leicht zu verstehen. Das läßt meinen verschwommen aussehen, aber er ist es nicht. Ungeformt, ja. Laßt all diese Aktivitäten aus uns heraus hervortreten, in ihrer eigenen Weise, was auch immer das ist, wobei Gestalt zur Freisetzung beiträgt. ... Ich möchte einen neuen Anfang." (Stevens 1970, 263).

Und so entläßt Barry Stevens sich schließlich aus dem Gestalt Institute of Canada: "Ich erzählte der Gruppe, was in mir vorging, wusch meinen Zensor weg und sagte es: 'Ich gebrauchte Gestalt (bei einer Arbeit an meinem Traum), brach die Regeln von Gestalt, und das ist Gestalt.' Niemand zeigte ein Anzeichen von Verstehen, und mir war es egal. Das ist mein Diplom." (Stevens 1970, 262). Zu diesem Zeitpunkt ist Barry Stevens siebenundsechzig Jahre alt.
 

Die siebziger Jahre
Ihr Buch über die Zeit am Lake Cowichan erscheint 1970 ebenfalls in Steve Stevens Verlag Real People Press. Bei Real People Press waren bereits 1969 zwei für die öffentliche Wirkung der Gestalttherapie wichtige Bücher erschienen. Bei dem einen handelt es sich um Fritz Perls Autobiographie "In and Out the Garbage Pail"; deutscher Titel: "Gestalt-Wahrnehmung. Verworfenes und Wiedergefundenes aus meiner Mülltonne" (Perls 1969b).

Das andere Buch ist Fritz Perls "Gestalt Therapy Verbatim"; deutscher Titel: "Gestalt-Therapie in Aktion" (Perls 1969a). Steve Stevens hatte die Zusammenstellung des Buches übernommen. Dabei verwendete er als Grundlage Tonbandmitschnitte von Workshops, die Fritz Perls in der Zeit von 1966 bis 1968 durchgeführt hatte.

Barry Stevens kommt ein großer Anteil an der Entstehung dieses Buches zu. Sie arbeitet über Monate mit an der Übertragung der Tonbandprotokolle in eine schriftliche Form (Stevens 1970, 76).

1971 nehmen Barry und Steve Stevens an einem Tai Chi-Workshop des Tai Chi-Meisters Al Chung-liang Huang in Esalen teil, bei dem wiederum Tonbandaufnahmen durchgeführt werden und als Grundlage zu einem Buch über Tai Chi dienen. Alle drei hatten sich schon vorher kennengelernt und waren einander freundschaftlich verbunden (Huang 1973, 8ff). Das Buch erscheint unter dem Titel "Embrace Tiger, Return to Mountain - The Essence of T'ai Chi", ebenfalls bei Real People Press; deutsch: "Lebensschwung durch T'ai Chi" (Huang 1973). Die Erfahrungen, die Barry Stevens mit Tai Chi macht, fließen in ihre gestalttherapeutische Körperarbeit ein.

Auf diesem Workshop kommt es auch zur ersten Begegnung zwischen Barry und Steve Stevens und Joe Wysong, dem späteren Gründer und Herausgeber des amerikanischen "The Gestalt Journal" (Wysong 1986, 72).

Während des Jahres 1971 sucht Steve Stevens nach einer abgelegenen Ranch als neuem Wohnsitz für die Familie, und wird Ende des Jahres in der Nähe von Moab, Utah, fündig. Im Oktober ziehen Barry Stevens und Steve mit Familie nach Moab. Der Verlag Real People Press wird ebenfalls dorthin verlegt (Briefe von Barry Stevens an Joe Wysong, u.a. v. 12. Oktober 1971, veröffentlicht von Joe Wysong im Internet). Im Vorwort zur Neuauflage von "Don't Push the River" im Jahre 2005 durch "The Gestalt Journal Press" erzählt Joe Wysong, wie hier nach und nach Gebäude entstehen, und daß Barry und Steve Stevens Gestalttherapie-Workshops durchführen und Gestalttherapeuten einladen, "die sie respektieren". Im Frühjahr 1972 berichtet Barry Stevens Joe Wysong, daß sie inzwischen ihre Briefe von Bertrand Russell an das Bertrand Russell-Archiv verkauft hat, um Instandsetzungsarbeiten auf der Ranch zu finanzieren: "Geld von den Toten (beide BR und Archive), um eine Straße zum Leben zu bauen." (Brief an Joe Wysong, undatiert, mit großer Wahrscheinlichkeit im März/April 1972).

1972 reist Barry Stevens für einige Monate nach Chile, um dort die Verbreitung der Gestalttherapie zu unterstützen. Die ersten chilenischen Gestalttherapeuten hatten Kontakt zu Real People Press aufgenommen, und angefragt, ob sie Fritz Perls' "Gestalt Therapy Verbatim" ins Spanische übersetzen dürften. Das Buch erscheint 1974 unter dem Titel "Suenos y Existencia". Barry Stevens führt während ihres Aufenthalts in Chile Filme aus Esalen vor, die Fritz Perls bei der Arbeit zeigten, und sie führt auch selbst Gestalttherapie-Workshops durch (Hunneus 2005).

 

Star-sein oder nicht sein
Inzwischen hat Barry Stevens durch ihre beiden Bücher "Person to Person" und "Don't Push the River" einen erheblichen Grad an Berühmtheit erreicht und wird von anderen Menschen zu einem der "Stars" der Zeitströmungen gemacht, die im weitesten Sinne Wachstum als Ziel für sich in Anspruch nehmen. Barry Stevens ist von dieser Entwicklung nicht angetan. Sie will weder zum Star noch zum Guru gemacht werden. Noch in ihrem letzten Buch "Burst Out Laughing" beschreibt sie gleich zu Anfang ihr vergebliches Bemühen, sich nicht zum Guru machen zu lassen (Stevens 1985, 1).

Ihre kritische Haltung gegenüber "Star-Rummel" und in ähnlicher Weise gegenüber der Human Potential-Bewegung, den "Wachstums-Zentren" und zum Teil auch gegenüber der Bewegung der Humanistischen Psychologie liegt in ihrer sehr aufmerksamen, kritischen Einstellung zu Konzepten. Ihr liegt nicht daran, daß die Menschen nur Konzepte austauschen. Sie sieht keine Lösung darin, daß neue Konzepte anstelle der alten introjiziert werden. Ihre Vorstellung von Leben ist eng verbunden mit wachsamer, eigener Erfahrung und dem Herausfinden, was für die jeweils einzelne Person am jeweiligen Ort zum jeweiligen Zeitpunkt passend, d.h. der Entfaltung des eigenen lebendigen Lebens zugetan ist, ohne die Mit-Menschen dabei auszublenden.
So schreibt sie in bezug auf Maslows Begriff der "Selbstverwirklichung":
"Abe Maslow war unglücklich über das, was mit vielen Menschen geschah, wenn sie lasen, was er über 'selbstverwirklichte Menschen' geschrieben hatte. Was sie damit machten war sehr eigenartig. Ich habe eine ziemliche Anzahl von Briefen erhalten, in denen stand 'ich bin eine selbstverwirklichte Person'. Maslow sagte, daß er etwas ausgelassen haben müsse. Fritz hat es eingefügt. Er bemerkte, daß die meisten Menschen ein Selbstkonzept verwirklichen. Das ist nicht Selbst-Verwirklichung. Meine Selbst-Verwirklichung, wenn sie geschieht, ist voller Überraschungen - überrascht mich. Ich verwirkliche kein Selbstkonzept." (Stevens 1975a, 183/84)

Als Konsequenz aus dem "Star-Rummel" zieht sie Anfang der siebziger Jahre weit weg, nach Moab, Utah, ohne sich jedoch aus der Entwicklung der Gestalttherapie herauszunehmen.

Im Sommer 1975 erscheint Barry Stevens als eine der Teilnehmerinnen der wahrscheinlich ersten Gestalttherapie-Konferenz. Steve Stevens hat sie organisiert. Molly Rawle erinnert sich: "Ich erinnere mich daran, daß Leute auf dem Boden lagen, an Teile von Traumarbeit und eine Menge indischen Madras. Jemandens alte Großmutter war da, von der sich herausstellte, daß es Die Barry Stevens war." (Rawle 1987, 37).

Im gleichen Jahr erscheint das Buch "gestalt is" (Herausgeber Steve John O. Stevens), in dem Barry Stevens zwei Artikel veröffentlicht; in einem der beiden beschreibt sie ihre Form gestalttherapeutischer Körperarbeit (Stevens 1975 a + b). In einem gemeinsamen Vorwort erklären Barry und Steve Stevens, daß sie das Wort gestalt im Titel bewußt mit kleinem g schreiben, (eine Verfahrensweise, die Barry Stevens auch in ihren Artikeln übernimmt). "Der Titel dieses Buches reflektiert unsere Ansicht, daß gestalt einfach ist - keine Glorifizierung." (Stevens J.O. 1975, i).

Sie erneuern ihre Kritik an Teilen der Entwicklung der Gestalttherapie, die zu einer Verwässerung von Gestalttherapie führt sowie zu einer erheblichen Verschlechterung ihrer Qualität. "Wie mit so vielen Dingen ist weitreichende Akzeptanz sogar gefährlicher als Ablehnung. Vieles der 'Bearbeitung' ist Verstümmelung. Viele 'gestalt'-Therapeuten sind eine Art runderneuerter Therapeuten, die ein paar gestalt-Tricks aufgegriffen haben, so daß sie auf den fahrenden Zug aufspringen können." (Stevens J.O. 1975, iii).

1976 gründen das Center for Gestalt Development, New York, und Joe Wysong die halbjährliche Zeitschrift "The Gestalt Journal", die von Barry Stevens in einer Weise unterstützt wird, die Joe Wysong als "fundamental für den Anfangserfolg" charakterisiert (Wysong 1986, 74).
 

... und danach
Zunehmende gesundheitliche Einschränkungen Ende der siebziger Jahre erschweren Barry Stevens Mobilität. In den letzten Jahren ihres Lebens unternimmt sie noch ein weiteres Buchprojekt. "Was als eine einfache Illustrierung von Regeln vs. Bewußtheit begann, hat sich nun darüber hinaus entwickelt, und ich bin mir noch nicht recht sicher, wohin es geht." (Brief an den Autor v. 29. 9. 1982). Im April 1983 ist das Manuskript fertiggestellt. Das Buch hat sich zu etwas entwickelt, das autobiographischen Charakter trägt, allerdings nicht in chronologischer Erzählweise, verwoben mit Barry Stevens Lebensein- und -vorstellungen. Der Schreibstil reicht stellenweise bis in aphoristische Kürze. Sie erlebt die Veröffentlichung im Jahre 1985.

Der Titel kann vielleicht verstanden werden als eine Verdichtung ihrer Lebenserfahrungen und ihrer Lebensweise. Er zitiert einen Text des tibetisch-buddhistischen Meisters Long-chen-pa: "Burst Out Laughing", (in schallendes Gelächter ausbrechen). Und ist es nicht so: angesichts der unzähligen Erscheinungsformen, die unablässig enstehen und vergehen, und die in dieser Weise uns und die Welt konstituieren, "die nichts zu tun haben mit Gut oder Schlecht, Akzeptieren oder Ablehnen" (Long-chen-pa in: Stevens 1985, 177), gäbe es eine bessere Lösung als in schallendes Gelächter auszubrechen?

In den letzten Jahren ihres Lebens ist Barry Stevens über Gestalttherapie hinausgegangen: "Gestalttherapie hat nicht ihren Wert für mich verloren, aber ich bin zu etwas Anderem weitergegangen -- Ich bin nicht ganz sicher zu was. Vor einigen Wochen war ich Teil einer Wochenendgruppe in Gestalttherapie, und ich fühlte mich, als würden die Leute dort mich an meine Vergangenheit binden -- obwohl letzten Endes natürlich ich es war, die das machte, und ich kam da raus." (Brief an den Autor v. 29. 9. 1982).

Am frühen Morgen des 28. Dezember 1985 stirbt Barry Stevens in Meridian, Idaho, wo sie die letzte Zeit ihres Lebens verbrachte.

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BEGRIFFE
Es gibt ein Phänomen in der Entwicklung der Gestalttherapie. Dieses Phänomen ist eng verbunden mit Barry Stevens Vorstellungen von Gestalttherapie und deren Bedeutung für ihr Leben. Es handelt sich um den unterschiedlichen Gebrauch der Begriffe Gestalt oder Gestalttherapie. Und, wenn man so will, um die von Barry Stevens hinzugefügte Variante gestalt (mit kleinem g).

Ich vermute, daß sich im unterschiedlichen Gebrauch der Begriffe Gestalt und Gestalttherapie die Zeitströmungen, die gesellschaftlichen Entwicklungen und ihre Wirkungen auf die Gestalttherapie widerspiegeln. Ende der sechziger Jahre erleben wir eine Zeit des Aufbruchs, des Auf-Bruchs, der Rebellion, des Ausbrechens aus alten Formen der Repression und der Suche nach neuen gemeinschaftlichen Lebensformen, die sich in den USA u.a. in der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung oder der Hippie-Bewegung manifestieren. Im Rahmen der Psychotherapie zeigen sich diese Umwälzungen in der zunehmenden Bedeutung von Gruppentherapien gegenüber der traditionellen Einzeltherapie. Fritz Perls Bevorzugung von Demonstrations-Workshops als Gruppenveranstaltungen gehören sicher auch in diesen Zusammenhang.

Gary Yontef beschreibt die Zeit, die für ihn die ersten Begegnungen mit Gestalttherapie brachte, folgendermaßen:
"Als ich im Jahre 1965 mit Gestalttherapie anfing, war es eine Ära der Rebellion und Revolution in der Gesellschaft und in der Therapie-Gemeinschaft. Alles schien möglich, wenn wir nur willens waren, die Fesseln der Rigidität wegzuwerfen und eine Kreativität auftauchen zu lassen, die Risiken erlaubte. Ein naiver Glaube an und eine Hoffnung auf Experimentieren ging Hand in Hand mit einer Verabschiedung von Tradition. Für die Gestalttherapie war es der Anfang einer Dekade mit meteorhaftem Erfolg." (Yontef 1987, 42)

Die frühen siebziger Jahre führen dann - seiner Einschätzung nach - von der nach außen gerichteten, rebellischen Haltung hin zu einer stärkeren Ausrichtung nach innen (Yontef 1987, 43). Die Suche nach neuen Lebensformen blieb ein verbindendes Element.

Der Wunsch nach ganzheitlichen, gemeinschaftlichen Lebensweisen kommt auch in Fritz Perls Orientierung auf den Aufbau von gestalt(therapeutischen) Gemeinschaften, wie in Lake Cowichan, zum Ausdruck, oder in seinen Überlegungen zu einem Gestalt-Kibbuz gegen Ende seines Lebens (Perls 1969b, 322). Und auch für Barry Stevens - wie bereits dargestellt - führen die Erfahrungen mit Gestalttherapie zu dem Wunsch nach einer neuen, gemeinschaftlichen Lebensform (1), - viel mehr als nach Ausbildung oder Entwicklung in Richtung einer traditionellen Einzeltherapeutin.

Zunächst sei noch darauf hingewiesen, daß das Wort Gestalt häufig als Abkürzung für Gestalttherapie gebraucht wird. Das ist aus dem Kontext meist deutlich zu erkennen, kann aber u.U. auch als erste Aufweichung dessen gesehen werden, was in engerem und deutlich definiertem Sinne Gestalttherapie als Psychotherapie ausmacht. (Bei grober Durchsicht konnte ich bei Fritz Perls den Gebrauch des Wortes Gestalt erst ab Ende der sechziger Jahre finden.)

Allmählich scheint sich am Anfang der Siebziger dann der Begriff Gestalt von der ursprünglichen Psychotherapie mehr und mehr entfernt zu haben und zu einem Etikett geworden zu sein für eine nicht näher definierte, undeutliche Vorstellung von einer Lebensweise, die sich in ihren Leitlinien auf Gestalttherapie beziehen will (2).

Diese Zeit, die nach Yontef eine Zeit der "Slogans und Clichés" darstellt (Yontef 1987, 62), sucht auch nach einfachen Bezeichnungen für die neu entstehenden Entwürfe. Gestalt und Gestalttherapie vermischen sich in der Öffentlichkeit.

Barry Stevens unterscheidet zwischen Gestalt und Gestalttherapie (und gestalt), - mit Bedacht und erklärtermaßen. Zusammen mit Steve Stevens formuliert sie:
"Die meisten Studien über Menschen messen nur einige Ereignisse oder Variablen und benutzen eine große Anzahl von Menschen für die statistische Validität, wobei sie weite Bereiche der Erfahrung ignorieren. Gestalt wagt es, auf das von-Moment-zu-Moment Funktionieren des Individuums zu fokussieren, in allen Einzelheiten und in aller Komplexität."

Etwas weiter definieren sie dann, und gehen dabei weit über traditionelle Psychotherapie hinaus:
"Vielleicht ist die bemerkenswerteste und dennoch offensichtliche Botschaft von gestalt diese: Wenn man die Ereignisse seines Lebens klar sieht, dann verläuft das Leben gut, ohne Verwirrung und unnötiges Elend. Manchmal ist das Leben schwierig und schmerzhaft, und manchmal ist das Leben voll Freude und erfüllt. Mit Bewußtheit kann man den Schmerz minimieren und die Freuden und Befriedigungen maximieren.
Gestalt ist tatsächlich mehr eine persönliche Übung, eine Lebensweise, als eine professionelle 'Therapie' oder eine 'Behandlung'. Es ist etwas, das man mit anderen tut und nicht an ihnen. Walter Kempler sagt es gut:
'Gestalttherapie, obwohl sie ursprünglich als eine Form der Psychotherapie vorgestellt wurde, basiert auf Prinzipien, die man als eine vernünftige Lebensweise betrachten kann. Mit anderen Worten, sie ist erst eine Philosophie, eine Seinsweise, und darauf aufgesetzt sind Wege, wie man dieses Wissen anwenden kann, so daß andere davon Nutzen haben können...Hoffentlich wird ein Gestalttherapeut mehr daran identifiziert, wer er ist, als daran, was er ist oder was er tut.'

Die Gestalt-Philosophie dient als eine Orientierung zum Leben, eine Erinnerung, daß Bewußtheit immer nützlich ist, und sie stellt eine Anzahl von speziellen Strategien und Techniken bereit, die wir benutzen können, um uns auf größere Bewußtheit hinzubewegen." (Stevens J.O. 1975, ii)

Es ist schon erstaunlich, wie sehr hier die Lebensweise, die auf gestalt(therapeutischen) Grundsätzen basiert, als Grundlage dessen gesehen wird, auf dem ein Gestalttherapeut ruht und aus dem heraus er oder sie zum Gestalttherapeuten oder zur Gestalttherapeutin wird. Die Perspektive, die sich darin eröffnet, deutet von Beruf auf Lebensweise; und Barry Stevens geht es um diese Art zu leben. Das, was sie mit gestalt meint, deckt sich mit vielem von dem, was sie bereits vorher in ihrem Leben selbst und für sich herausgefunden hat. Und dies ist etwas Anderes für sie, als eine Psychotherapie im engeren Sinne, die unter dem Namen Gestalttherapie existiert.

Aus ihrer Sicht führt nichts, aber auch gar nichts, an der Entwicklung von Bewußtheit vorbei. Das ist der Kern, in Gestalttherapie wie in Gestalt oder gestalt. Und so wendet sie sich schließlich mit folgenden Gedanken von Lake Cowichan ab:
"Wie einfach das Leben ist. Lebe mit Bewußtheit, nicht durch Regeln oder durch Konditionierungen oder Denken oder Du-solltest oder Du-solltest-nicht. Wie schwer ist es, alle diese Regeln und Konditionierungen und das Denken und die Du-solltest und solltest-nicht zu sehen, die zwischen Ich und Du und zwischen Ich und Ich-selbst kommen. ...Mein neuer Anfang hat schon begonnen. Ich möchte immer noch eine Ranch oder eine Farm, wo ich mit einigen anderen Menschen meinen Anfang stärken kann, und wo das, was aus uns allen entstehen wird, unbekannt ist." (Stevens 1970, 267/68)
 
 

ANMERKUNGEN
1. Ihre Vorstellungen von einer Gestalt-Gemeinschaft erläutert sie ausführlich an verschiedenen Stellen in "Don't Push the River". Eine genauere Darstellung würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.

2. Ich vermute, daß sich diese Entwicklung hauptsächlich an der Westküste der USA vollzieht. Zu den unterschiedlichen Strömungen in der Gestalttherapie in den USA und ihre Bindung an Regionen (West- /Ostküste, Cleveland) oder Personen (Fritz Perls, Laura Perls, From, die Polsters usw.) gibt es eine ausführliche Diskussion in The Gestalt Journal (s.u.a. Latner 1983; From 1984; Resnick 1984; Yontef 1984; Yontef 1987).
 
 

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© Detlev Kranz, Hamburg

letzte Änderung: 12/12

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Joe Wysong hat einen kurzen Text über Barry Stevens ins Netz gestellt, u. a. mit vielen Photos und Briefen von ihr:

   http://www.gestalt.org/barry.htm
 

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Artikel des Autors zur Gestaltpädagogik:
 

Kranz, D. (1983): Gestalt-Pädagogik im Fremdsprachenunterricht. Zum Beispiel: Lyrik. In: PRAXIS des neusprachlichen Unterrichts, 1/83, S. 50 – 57, Dortmund; (Verlag Lambert Lensing)

Kranz, D. (1991): Gestaltpädagogik mit arbeitslosen Jugendlichen in schulisch orientierten Maßnahmen. In: Die Deutsche Schule, 2/91, S. 239 – 253; Weinheim, (Juventa Verlag)
 

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links zum Thema "Gestalttherapie":

hervorragende Website mit umfangreichen Informationen zur Gestalttherapie für Laien und Profis:

            http://www.gestaltpsychotherapie.de
 

Website des Gestalt-Instituts Köln, u.a. mit vielen Artikeln und Büchern (Textauszüge daraus).

            http://www.gestalt.de

 
© Detlev Kranz 2019